Digitaler Zwilling trifft reale Produktion

Mensch-Technik-Interaktion in der Produktion

Portrait von Prof. Dr. Carmen Constantinescu, Fachreferentin Digital Manufacturing, vor einem Industrieroboter der Firma KUKA in der ARENA2036 in Stuttgart-Vaihingen. Aufgenommen am 06.07.2023 in Stuttgart-Vaihingen. Fotograf: Martin Albermann
© Martin Albermann
Die Fabrik der Zukunft gestalten: KI kann Produktionweisen ermöglichen, die sich an den Bedarfen der Mitarbeitenden orientieren und zugleich effizienter sind als bisher, sagt Prof. Dr. Carmen Constantinescu, Fachreferentin Digital Manufacturing am Fraunhofer IAO.

In modernen Fabriken können kleine Störungen eine Kaskade von Problemen verursachen. Im Projekt »I4Produktion« entwickelt das Fraunhofer IAO gemeinsam mit Part­nern aus der Wirtschaft eine Künstliche Intelligenz, die helfen soll, Produkti­onsabläufe stets effizient zu gestalten.

Eigentlich ist die Aufgabe, die der AGV (Autonomous Ground Vehicle), ein lasergeführter, fahrerloser Gabelstapler, jetzt übernehmen soll, einfach: ein Bauteil für einen Pkw zur nächsten Produktionsstufe bringen. Doch etwas ist anders an diesem Tag. Der Korridor mitten durch die Halle, durch die der Wagen normaler­weise fährt, ist blockiert. Dort sind Absperrbänder gespannt, weil hier Bauarbeiten stattfinden.

»Der Kleine weiß ganz genau, dass er einen anderen Weg nehmen muss«, sagt Professorin Carmen Constantinescu, die jede Bewegung des Roboters genau beobachtet – allerdings nicht in der Realität. Sie schaut sich eine Computersimulation auf einem Monitor an. Und in diesem Moment sieht sie, dass der AGV einen anderen Weg einschlägt, er wählt einen Korridor am Rand der Fabrikhalle, um seine Fracht ans Ziel zu bringen. Bei dieser Entscheidung musste kein Mensch helfen. Der Roboter wird durch eine Künstliche Intelligenz (KI) gesteuert.

Ein Forschungscampus für Wirtschaft und Wissenschaft

Genau daran arbeitet die Ingenieurin Carmen Constantinescu mit ihrem Projekt »I4Produktion« für das Fraunhofer IAO. Der Projektname steht für: »Alle Augen auf die Produktion«. Das Ziel ist eine smarteFabrik, die mithilfe von umfangreichen Daten die Produktion fehlerfrei und mit optimaler Kapazität aufrechterhält. In so einer Fabrik erkennen Kameras und Sensoren blockierte Wege, dann leitet das System Transportroboter um. In dieser Fabrik bringen die Transportroboter einer Mitarbeiterin, die kurz davor ist, ein schweres Bauteil zu bewegen, ein Exoskelett, das beim Heben schwerer Lasten unterstützt. So eine Fabrik passt Arbeitspläne automatisch und in Echtzeit an, um Ausfälle durch Krankmeldungen auszugleichen.

»Wir arbeiten an einer resilienten Fabrik«, sagt Prof. Dr. Carmen Constantinescu. Menschen gelten als resilient, wenn sie schwierige Lebens­situationen ohne dauerhafte Beeinträchtigung überstehen. Eine resiliente Fabrik soll am Optimum produzieren, auch wenn Störungen auftauchen.

Ein Mitarbeiter des Teams von Prof. Dr. Carmen Constantinescu zeigt zu Vorführungszwecken einen Arbeitsschritt aus der Autobatterieherstellung. Er trägt dabei ein Exoskelett, welches ihn stabilisiert und bei der Tätigkeit entlasten soll. Das Team um Prof. Dr. Carmen Constantinescu forscht und arbeitet an einem Projekt in der ARENA2036 in Stuttgart-Vaihingen.
© Martin Albermann
Kollege Roboter: Ein Mitglied des Teams von Carmen Constantinescu testet ein Exoskelett in der ARENA2036. Das Gerät, das man wie einen Rucksack aufsetzt, kann beim Anheben schwerer Bauteile in der Autoproduktion helfen.

Carmen Constantinescu sitzt in einer großen Halle, die der Fabrik aus der Computersimulation erstaunlich ähnlich ist: weißer Fußboden, eine hohe Decke, viel Glas, viel Raum. Es handelt sich um die sogenannte ARENA2036, einen Forschungscampus, auf dem Wissenschaft und Wirtschaft gemeinsam an neuen Lösungen basteln. »Neben mir sitzt Mercedes-Benz, dort hinten Siemens und hier Balluff, die liefern die Sensoren«, sagt Carmen Constantinescu. Mit ihrem achtköpfigen Team und ihren Projektpartnern hat sie in den vergangenen Monaten einen Digitalen Zwilling der ARENA2036 programmiert, also eine ARENA, die nur als Abbild aus Daten auf einem Server existiert, eine Simulation der Realität, möglichst bis zur letzten Schraube. Hier kann Constantinescu mit ein paar Mausklicks erledigen, was in einer realen Fabrik Stunden oder Tage dauern würde.



Unser Ziel ist die resiliente Fabrik, eine Fabrik also, die auch bei Störungen am Optimum produziert.«

Prof. Dr.-Ing. Carmen Constantinescu
Fachreferentin für Digital Manufacturing am Fraunhofer IAO

Sie baut Hindernisse in Wege, lässt Maschinen ausfallen oder fordert eine besonders hohe Anzahl schwerer Bauteile an. Sie füttert das Programm mit allen möglichen Daten, Prozessen und Szenarien.

Ein solches Szenario liefert der Projektpartner Mercedes-Benz. Nach der Produktion von E-Batterien wird deren Aluminiumgehäuse in der Qualitätssicherung überprüft. Dazu liegt die bis zu 20 Kilogramm schwere Batterie auf einer Art Tisch. Ein Industrieroboter, ein riesiger orangefarbener Roboterarm des Unternehmens Kuka, nähert sich der Batterie. An seinem Ende ist ein Laserscanner montiert. Mit diesem Scanner untersucht der Roboter das Gehäuse, er fährt alle Kanten und Flächen ab, misst bis auf Mikrometer genau die Ausmaße, sucht poröse Stellen. Das Problem: Vibrationen, verursacht durch andere Maschinen, die in der Halle arbeiten, können die Messgenauigkeit des Scanners beeinträchtigen. »Dann kann es sein, dass die Qualitätssicherung einen Fehler am Batteriegehäuse meldet, obwohl gar keiner vorhanden ist«, sagt Carmen Constantinescu. Das wiederum könne zu Zeitverzögerungen und unnötigen Materialverlusten führen. Deshalb pro­grammieren Constantinescu und ihr Team eine Lösung. Parallel zur Qualitätssicherung erfassen Sensoren die Vibrationen in der Fabrik, und der Messprozess wird entsprechend angepasst.

Den Problem-Tsunami vermeiden

Carmen Constantinescu füttert den Digitalen Zwilling der Fabrik mit vielen solcher Szenarien, sogenannten Trainingsdaten. Sie helfen dem System, ein Bild vom Produktionsprozess in allen seinen Details zu entwerfen – und diese zu analysieren: Wie oft kommt es zu welchen Störungen in der Produktion? Welche Lösungen haben sich als effizient erwiesen? So lernt der Digitale Zwilling. Und eine Künstliche Intelligenz entsteht, die Lösungen für alle möglichen Hindernisse und Herausforderungen in Sekundenschnelle umsetzen kann.

Wenn in einer Fabrik ein Fehler passiere, verursache das häufig einen Tsunami an weiteren Problemen, sagt die Projektleiterin. Wenn etwa die Produktion an einer Stelle ins Stocken gerate, würden alle nachfolgenden Prozesse in Mitleiden­schaft gezogen. Im Fall der Qualitätssicherung der E-Batterien bedeutet das: Wenn die Batterien nicht zügig durch die Qualitätssicherung kommen, fehlen sie in der Endmontage. Dann entsteht dort ein Stau, weil ein Bauteil nicht vor­handen ist. Aus einem Problem werden Dutzende.

Die Künstliche Intelligenz in der resilienten Fabrik kann auch so etwas abfedern. Sie berechnet stets den aktuell erwarteten Output der Produktion. Wenn aufgrund von Justierungen oder Blockaden oder anderer Turbulenzen an einem Tag statt wie geplant 108 nur 81 E-Batterien fertig gestellt werden, meldet das System das schon sehr früh an die Endproduktion. Die KI dort könnte dann nach Lösungen suchen, zum Beispiel andere Arbeitsschritte für die Mitarbeitenden einplanen.

© Martin Albermann
Tüfteln in der ARENA2036: Prof. Constantinescu und ihr Team entwickeln konkrete Lösungen für die smarte Fabrik der Zukunft.

Mitte September 2023 haben Carmen Constantinescu, ihr Team und ihre Partner den erfolgreichen Abschluss des Projekts gefeiert. Komponenten der resilienten Fabrik werden nun im Mercedes-Benz-Werk in Sindelfingen installiert und dort in der laufenden Produktion getestet.

»Wir zwingen die Realität, sich an unsere digitalen Träume anzupassen«, sagt Carmen Constantinescu. Während der Digitale Zwilling Daten lädt, Algorithmen berechnet, Wahr­scheinlichkeiten vergleicht, Lösungen liefert und umsetzt, entstehen dann in der Realität reale Produkte, echte Autos – effizienter als je zuvor.

Weitere Informationen

Leistungen für Unternehmen

Der Forschungsbereich »Cognitive Engineering and Production« unterstützt produzierende Unternehmen bei der Entwicklung effizienter Prozesse, attraktiver Arbeitssysteme und einer flexiblen Arbeitsorganisation.

 

Innovationsnetzwerke

Eine intensive Vernetzung mit Partnern aus Wirtschaft und Wissenschaft ist eine wichtige Voraussetzung, um durch neue Impulse dauerhaft Spitzenleistung zu erbringen. In enger Zusammenarbeit mit unseren Netzwerkpartnern bearbeiten wir spezifische Forschungsthemen.

 

Aus dem Magazin »FORWARD

Dieses Feature ist Teil des Magazins 2/23 des Fraunhofer IAO in Kooperation mit dem IAT der Universität Stuttgart.