Wenn Daten laufen lernen

Digitaler Wandel

Ein digitaler Sprachassistent für Außendienstler und eine intelligente Suchmaschine für Stellenausschreibungen: Zwei Entwicklungen aus dem Forschungsbereich Digital Business des Fraunhofer IAO zeigen, wie Künstliche Intelligenz (KI) den Menschen bei der Arbeit unterstützen kann. Im Zentrum der Innovationen steht eine Ressource, über die jedes Unternehmen verfügt, die aber noch zu oft nicht genutzt wird: Daten.

Felix Kuster steht bei geöffnetem Kofferraum an seinem schwarzen Auto und telefoniert mit einer Hand in der Hosentasche.
© Martin Albermann
Open-Air-Office: In Zukunft soll Außendienstler Felix Kuster große Teile seiner Büroarbeit während der Fahrt erledigen können.

Felix Kuster läuft über den Parkplatz auf seinen Dienstwagen zu und streift sich das Sakko ab, am Revers klemmt das Logo der Firma Trumpf. Der 40-Jährige arbeitet für den Maschinenbauer als Außendienstler im Verkaufsgebiet Region Freiburg. Er hängt das Sakko ins Auto, setzt sich im weißen Hemd ans Steuer und rollt dann durch die Hofeinfahrt auf die Landstraße. Gerade hat er einen seiner Kunden besucht, die Metalltechnikfirma HFK in Willstätt bei Offenburg. Eine Stunde lang hat er mit dem Geschäftsführer in dessen Büro gesessen und über den geplanten Kauf einer Biegemaschine gesprochen, über eine Softwarelösung und eine technische Störung an einer anderen Maschine. Das alles schwirrt jetzt in Felix Kusters Kopf herum, während er auf die A 5 fährt und entlang des Schwarzwalds in Richtung Feierabend steuert: In zwei Stunden wird er zu Hause ankommen. »Ich verbringe bis zu 50 Prozent meiner Arbeitszeit hinterm Lenkrad«, sagt Felix Kuster. Dabei hätte er so viel zu tun: Was er eben mit dem Kunden besprochen hat, muss er in einen Bericht gießen. Zudem muss er sein Team anweisen, sich um die technische Störung zu kümmern. Und er muss dem Geschäftsführer ein schriftliches Angebot für die Biegemaschine zusenden. Doch jetzt ist das Einzige, was Felix Kuster tun kann, das Auto zu lenken und Telefonate mit Kundinnen und Kunden oder mit Leuten aus seinem Team zu führen. »Der größte Teil ist allerdings Totzeit«, sagt er.

 

 

Ich verbringe bis zu 50 Prozent meiner Arbeitszeit hinterm Lenkrad. Der größte Teil ist allerdings Totzeit.«

Felix Kuster, Außendienstmitarbeiter Trumpf SE + Co. KG

KI-basierte Assistenz

Im Frühjahr 2020 entstand am Fraunhofer IAO eine Idee, wie Außendienstler wie Felix Kuster diese Totzeit besser nutzen könnten. Wie wäre es, wenn sie einen digitalen, KI-basierten Assistenten bei sich hätten, der ihnen hilft, Berichte und E-Mails zu schreiben, Termine zu planen und Angebote zu verschicken? Ganz ohne Ablenkungsgefahr und per Sprachsteuerung direkt vom Fahrersitz aus. Bislang erledigt Kuster solche Arbeiten in der Mittagspause und im Feierabend. Eine erste Machbarkeitsstudie des Fraunhofer IAO zeigte: Er könnte 10 bis 15 Prozent Arbeitszeit durch einen digitalen Assistenten einsparen.

Es ist eine Idee mit gewaltigem Potenzial. Denn nicht bloß Felix Kuster und seine Kollegen des Maschinenbaugiganten Trumpf mit Sitz in Ditzingen bei Stuttgart haben mit der »Totzeit« zu kämpfen. Ein Blick in eine andere Branche lässt das Einsparpotenzial erahnen: Alleine die deutschen Versicherungskonzerne beschäftigten 2022 fast 30 000 Außendienstler.

Seit drei Jahren arbeitet ein Team des Forschungsbereichs Digital Business am Fraunhofer IAO deshalb daran, für Kuster und seine Kolleginnen und Kollegen von Trumpf einen KI-basierten Sprachassistenten zu konzipieren und zu entwickeln. Dieser soll ihnen ermöglichen, zu jeder Zeit, also auch während langer Autofahrten, mit Kolleginnen und Kollegen oder Kundinnen und Kunden zu kommunizieren oder die Ergebnisse ihrer Kundengespräche zu dokumentieren. »DafNe« haben sie diesen Assistenten getauft, kurz für »Digitaler Außendienst-Assistent für Nebenzeitoptimierung«. Ist das Projekt erfolgreich, wäre es auch für viele andere Firmen interessant.

Spezielles Wortschatztraining

Doch bevor DafNe in Betrieb ist, muss Felix Kuster sich mit einer provisorischen Lösung behelfen, um die Totzeit im Auto zu nutzen. Nach Terminen wie dem Kundengespräch in Willstätt – sieben bis acht davon hat er im Schnitt pro Woche – muss er einen Bericht schreiben, in dem er den Inhalt zusammenfasst: Welche Probleme gibt es? Gibt es neue Verkaufschancen? Was ist zu tun? Also aktiviert er jetzt, während er auf der A 5 am Schwarzwald entlangfährt, den Spurhalteassistenten, den Tempomaten und den Abstandshalter am Lenkrad seines Autos. Die Spracherkennung seines Smartphones ist bereits aktiviert. Nun beginnt er, über die Freisprechanlage den Inhalt des Kundengesprächs ins Handy zu diktieren: »Die Maschine TruBend 7036 wurde spezifiziert und mit Sondernettopreis angeboten. Punkt.« So geht das weiter, fünf Minuten lang. Doch als er sich später auf einem Parkplatz den transkribierten Text ansieht, schüttelt er den Kopf. Er ist von Fehlern durchzogen, die Maschine zum Beispiel heißt jetzt »Trumpf Bernd 70,36«.

Trumpf-Außendienstmitarbeiter Felix Kuster besucht die Metalltechnikfirma HFK in Willstätt bei Offenburg. Mit einem Mitarbeiter sitzt er im Gespräch am Tisch. Vor ihm steht sein geöffneter Laptop.
© Martin Albermann
Nah am Kunden: Trumpf-Außendienstmitarbeiter Felix Kuster besucht die Metalltechnikfirma HFK in Willstätt bei Offenburg. Später muss er zahlreiche Details und komplexe Informationen dokumentieren und an sein Team kommunizieren.
Trumpf-Außendienstmitarbeiter Felix Kuster besucht die Metalltechnikfirma HFK in Willstätt bei Offenburg.  Ein Mitarbeiter zeigt ihm etwas an einer Metalltechnikmaschine.
© Martin Albermann
Nah am Kunden: Trumpf-Außendienstmitarbeiter Felix Kuster besucht die Metalltechnikfirma HFK in Willstätt bei Offenburg. Später muss er zahlreiche Details und komplexe Informationen dokumentieren und an sein Team kommunizieren.

Am Telefon erzählt Claudia Dukino, die am Fraunhofer IAO verantwortlich für das Projekt DafNe ist, dass genau das die größte Herausforderung bei der Entwicklung des Sprachassistenten sei. »Jede Firma hat ihren eigenen Wortschatz«, sagt sie. Deshalb seien schon einige große Softwarekonzerne an derartigen KI-gestützten Sprachassistenzsystemen gescheitert. »Es braucht ein speziell trainiertes System, das die Fachsprache in Text übersetzen kann. An dieser Herausforderung arbeiten wir gerade.« Claudia Dukino und ihr Team evaluieren derzeit, welche Modelle sich durch Wörterbücher anreichern lassen – und wie sich die Berichte von Außendienstlern einheitlich dokumentieren lassen. »Wir sind zuversichtlich, dass wir das hinbekommen«, sagt Dukino.

Parallel sollen Schnittstellen entstehen, damit der Sprachassistent auf Dokumente und Systeme zugreifen kann, um effizient zu arbeiten. Felix Kuster etwa könnte ihn dann bitten, den Aufstellplan der TruBend 7036 als E-Mail-Anhang zu versenden.

»Das neue Gold«

»Die Zeiten der strukturierten Ablage sind vorbei«, sagt Lothar Sprengel, der bei Trumpf für Digitalisierungsprojekte zuständig ist. Vor einigen Jahren begann er sich den Außendienst mal genauer anzusehen und merkte: Der Bereich schien bislang von der Digitalisierung weitgehend verschont worden zu sein. »Wenn die Vertriebler, zugespitzt gesagt, heute noch mit Papier und Stift unterwegs sind, zugleich aber hochkomplexe Maschinen verkaufen, dann passt das nicht zusammen«, so Sprengel.

 

 

Jede Firma hat ihren eigenen Wortschatz. Das ist die größte Herausforderung bei der Entwicklung von Sprachassistenten.«

Claudia Dukino, DafNe-Projektleiterin am Fraunhofer IAO

Es sind Systeme wie DafNe, an deren Beispiel deutlich wird, welche Möglichkeiten Datennetzwerke in Kombination mit Künstlicher Intelligenz für Unternehmen bereithalten: Sie erlauben es ihnen, Prozesse effizienter und kostengünstiger zu gestalten und intelligenter mit Kunden zu kommunizieren. In einem weiteren Schritt lassen sich – auch im Rahmen von unternehmensübergreifenden Datenökosystemen, Informationen nutzen, um innovative Produkte und Dienstleistungen zu entwickeln. Nicht ohne Grund gelten Daten als »das neue Gold«.

Thomas Renner, Leiter des Forschungsbereichs Digital Business am Fraunhofer IAO, steht mit einer Frau und einem Mann an einem Tisch und ist im Gespräch.
© Martin Albermann
Brücken bauen: Thomas Renner, Leiter des Forschungsbereichs Digital Business am Fraunhofer IAO, will wissenschaftliche Erkenntnisse zur industriellen Anwendung führen.

Die Chancen von KI nutzen

Im Forschungsbereich Digital Business am Fraunhofer IAO versucht ein Team von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, diese Potenziale bestmöglich in die Anwendung zu bringen, sagt Leiter Thomas Renner. Zum einen arbeiten sie hier an Forschungsprojekten für den Mittelstand. In einer jüngeren Studie etwa haben sie gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen aus anderen Forschungsbereichen des Instituts Potenziale Generativer Künstlicher Intelligenz für diese Unternehmen in Baden-Württemberg untersucht. Zum anderen versuchen Renner und seine Forschungsmannschaft, wissenschaftliche Erkenntnisse in die Industrie zu bringen. Gerade die Erwartungen an Künstliche Intelligenz seien da aktuell sehr hoch. »Die meisten Firmen interessiert dabei: Wie können wir effizienter, schneller und besser zusammenarbeiten?«, sagt Renner. »Wir versuchen, die Chancen zu nutzen, die KI und Datenanalysen eröffnen.«

DafNe ist nur eines von vielen Projekten, an denen die 40 festangestellten Mitarbeitenden des Forschungsbereichs Digital Business in Stuttgart gerade tüfteln.

Allein am KI-Fortschrittszentrum, das ist eine Querschnittseinrichtung mit dem Fraunhofer-Institut für Produktionstechnik und Automatisierung IPA, gebe es 300 Teilprojekte. Die Kunden des Forschungsbereichs Digital Business kommen hauptsächlich aus den Bereichen Fertigung, Dienstleistung, Medizintechnik sowie aus der Versicherungsbranche. Manchmal gehen Renner und Co. gezielt auf Firmen zu und versuchen sie für Projekte zu gewinnen. Manchmal melden sich die Firmen aber auch direkt mit einem Auftrag.

Die KI studiert Stellenangebote

So wie die Personalagentur Contractor Consulting GmbH aus München, die im Rahmen des KI-Fortschrittszentrums auf die Fraunhofer-Expertise aufmerksam geworden war. Contractor hatte sich mit einer ganz speziellen Anfrage an das KI-Fortschrittszentrum gewandt: Sie waren auf der Suche nach einer KI, die Stellenanzeigen lesen und verstehen kann. »Wir suchen für unsere Kunden nach geeigneten IT-Fachkräften«, sagt Contractor-Geschäftsführer Alexander Ulrich.

Die Herausforderung sei dabei, dass Firmen ihre Ausschreibungen über mehrere Personalagenturen streuen. »Deshalb beobachten wir täglich, was die Konkurrenz tut. Ob sie die gleichen Stellenausschreibungen online gestellt haben. Ob der Kunde nur ihnen vertraut, oder ob er gleich fünf Mitbewerber mit ins Boot holt.

Felix Küster sitzt in seinem Auto. Eine Hand am Lenkrad, die andere im Gespräch über die Fernsprechanlage gehoben.
© Martin Albermann
Alles im Griff: Wenn der Sprachassistent DafNe zur Verfügung steht, wird Felix Küster die Stunden im Auto effizient nutzen können.

So können wir das Verhältnis zu unseren Kunden analysieren und unsere Erfolgschancen berechnen«, sagt Alexander Ulrich. Alleine in den ersten neun Monaten des Jahres 2023 hat sein Unternehmen eine sechsstellige Zahl an Ausschreibungen beobachtet. Das kann natürlich kein Mensch mit seinen eigenen Augen leisten; eine Künstliche Intelligenz wäre viel effektiver. 

Gemeinsam mit den Forschenden des Fraunhofer IAO überlegte Ulrich, wie man die KI trainieren könnte, damit sie die Duplikate unter den Stellenausschreibungen bestmöglich erkennt. Sie probierten verschiedene Algorithmen und KI-Verfahren aus – und tatsächlich: 90 Prozent der Dubletten konnten testweise identifiziert werden. Ende 2023 soll die Software in das Produktivsystem eingebaut werden.

Bei Trumpf wird es wohl noch etwas dauern, bis Felix Kuster einen digitalen Assistenten neben sich sitzen hat. Im April 2024 soll ein Prototyp der Anwendung fertig sein. Bis dahin wird Kuster seine Berichte in seiner Freizeit schreiben. So wie er das auch an diesem Abend tun wird.

Felix Kuster ist Hobby-Jäger: Wenn er am Abend im Dunkeln auf seinem Hochsitz im Schwarzwald sitzt und darauf wartet, dass ihm Rehe und Wildschweine vor das Gewehr laufen, tippt er auf seinem Tablet den Kundenbericht ab. Wenn seine Frau ihn am nächsten Morgen fragt, ob er was geschossen habe, antwortet er: Ja, drei Kundenberichte. Gut für die Tiere, schlecht für Felix Kusters eigentlich freie Zeit.

Weitere Informationen

 

Digital Business

Digitalisierungspotenziale erschließen, KI und IT-Technologien nutzbringend einsetzen, Prozess- und Produktinnovationen erfolgreich umsetzen: Der Forschungsbereich »Digital Business« bietet passgenaue und sichere IT-Lösungen. 

 

Veranstaltungsangebot

Von Data Science über KI bis hin zu Quantencomputing: Der Forschungsbereich »Digital Business« bietet vielfältige Seminare, Schulungen und DigitalDialoge an.

Projekt

DafNe: Digitaler Außendienst-Assistent für Nebenzeitoptimierung

DafNe als sprachgesteuerter digitaler Assistent auf Mobilgeräten wie Tablet und Smartphone soll automatisiert Aufgaben ausführen oder vorbereiten. 

 

Aus dem Magazin »FORWARD

Diese Reportage ist Teil des Magazins 2/23 des Fraunhofer IAO in Kooperation mit dem IAT der Universität Stuttgart.